Leidgeplagtes Kreuz und ein Scherbenhaufen

Das Kreuz mitten im Altarraum der Düsseldorfer Johanneskirche ist selbst angeschlagen. Es liegt auf der Seite, gestützt von einem langen Holzstab, rissig, leidgeplagt. Wenige Schritte entfernt ein Scherbenhaufen, der sich über schwarze Stufen verteilt. Nein, an dieser traditionsreichen ökumenischen Andacht am Vorabend des ersten Sonntags der Passionszeit ist nichts normal. Aber die Zeiten sind es auch nicht. Krieg in Europa; eine Pandemie, die nicht enden will; eine Kirche, der immer mehr Menschen den Rücken kehren. „In vielerlei Hinsicht blicken wir daher auf einen Scherbenhaufen“, sagt Präses Dr. Thorsten Latzel bei der Begrüßung.

Präses Dr. Thorsten Latzel bei seiner Begrüßung.

Der Scherbenhaufen „als Symbol für Vertrauen, das zerstört wurde, für Bindungen, die zerrissen, Gewissheiten, die zu Bruch gegangen sind“, beschreibt Latzel die Grundierung dieses Bußgottesdienstes, der zugleich Friedensandacht sein will. „Wir haben keine Lösungen und keine fertigen Antworten“, so der Präses, „sondern nur die Hoffnung, dass Gott uns nicht alleine lässt.“

Dreiklang der Niedergeschlagenheit

Der Krieg, die Pandemie, die Kirchenkrise – ein Dreiklang der Niedergeschlagenheit, ausgeformt in drei Klagetexten. „Der Glaube schwindet, dass auch unsere Kinder in Sicherheit und Frieden leben werden. Der Schwache wird zu Boden geworfen, der Starke setzt sich durch – und verstößt damit auch gegen deinen Willen“, liest Dr. Rainer Will (Vorstand Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Köln), ehe er eine Scherbe nimmt und vor dem Kreuz niederlegt. „Hände reichen – unhygienisch. Einen Menschen umarmen – ein Infektionsrisiko. Sich austauschen und zuhören – nur mit Mundschutz und am besten nur digital. Die Pandemie hat unsere Gemeinschaft brüchig werden lassen“, beklagt Almut Steinecke (Johanneskirche). „Die Körper und Seelen von wehrlosen Menschen, von Kindern, Jugendlichen und Frauen, wurden verletzt. Auch in der Kirche haben Menschen ihre Stellung und ihren Einfluss missbraucht, Opfern zu wenig und zu spät zugehört, Täter nicht zur Rechenschaft gezogen und Verantwortung nicht übernommen“, trägt Elisabeth Schmitz-Janßen (Katholische Kirche Angerland-Kaiserswerth) vor.

Auch die Besucherinnen und Besucher der Andacht konnten am Kreuz eine Scherbe niederlegen.

Gescheiterte Hoffnungen und individuelle Seelenlasten

„Auch in unserem persönlichen Leben gibt es Dinge, die zerbrochen sind, die wir nicht heilen können“, sagt die Essener Pfarrerin Dagmar Kunellis als Aufforderung an die Besucherinnen und Besucher, nun selbst nach vorne zu kommen und eine Scherbe vor dem Kreuz niederzulegen. Erst zögerlich, dann stetiger, wächst so ein Trauerzug der gescheiterten Hoffnungen und individuellen Seelenlasten. „Wir haben auf uns selbst und unsere kleinen Kräfte vertraut, wo wir allein auf deine Güte und Hilfe vertrauen sollten. Wir haben damit anderen und uns selbst Schaden zugefügt und sind dir die Ehre schuldig geblieben“, bekennt der Düsseldorfer Superintendent Heinrich Fucks im Bußgebet.

Weihbischof Rolf Steinhäuser hielt die Predigt.

„Bin ich bereit, Vertrauen wieder neu zu schenken?“

Und dann dieser Satz: „Das Frühjahr kommt – unaufhaltsam.“ Der Kölner Weihbischof Rolf Steinhäuser sagt ihn in seiner Predigt. Und bezieht sich dabei auf das Jesaja-Wort: „Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es. Merkt ihr es nicht?“ Die erwartbaren Gedanken der Zuhörenden nimmt Steinhäuser gleich vorweg: „Mann, was ist der naiv!“ Aber naiv fällt sein Rückblick auf seine knapp fünfmonatige Zeit als apostolischer Administrator im aufgewühlten Erzbistum Köln keineswegs aus. Er habe erlebt, „wie Blockaden niedergerissen wurden und sich eine neue Kultur des Miteinanders entwickelt hat“. Entscheidend sei jetzt die Frage: „Bin ich bereit, Vertrauen wieder neu zu schenken?“

Zwischen Enttäuschungsgefahr und zweiter Chance

An diesem Sonntag wird in den katholischen Messen ein Brief des zurückgekehrten Kardinals Rainer Maria Woelki verlesen. Steinhäuser hält ihn für einen guten Brief, „der neue Perspektiven öffnen kann“. Die spannende Frage sei aber: „Glaube ich dem Kardinal das, was er geschrieben hat?“ Auf der einen Seite stehe die Gefahr, wieder enttäuscht zu werden, auf der anderen der christliche Anspruch, der Bitte um eine zweite Chance nachzukommen. Aber Lösungen und fertige Antworten kann und will diese Passionsandacht inmitten all der Zerrissenheit ja nicht bieten. Darum bleibt dem Weihbischof nur das Zitat des verzweifelt nach Hilfe suchenden Vaters im Markusevangelium: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“

  • 6.3.2022
  • Ekkehard Rüger
  • Ekkehard Rüger