„Ein kleines Wunder unter Gastarbeitern“, nennt Anabel Cantú Flores Reimann liebevoll und bescheiden die Gemeinde, in der sie für die Musik verantwortlich ist. Die gebürtige Mexikanerin und studierte Theologin ist auch in der Gemeindeleitung aktiv. Die Gemeindegründung von 1964 geht auf den Spanier José Antonio Martínez zurück, der zunächst nach Argentinien auswanderte und dort den evangelischen Glauben für sich entdeckte. Als er mit seiner Familie nach Deutschland kam, fanden sie unter dem Dach der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Duisburg- Mitte in der Juliusstraße Räume, um andere spanische Einwanderer einzuladen und eine Gemeinde aufzubauen. Unterstützt wurde der theologische Autodidakt dabei von der Mission für Süd-Ost-Europa und der Deutschen Missionsgemeinschaft. Ab 1971 arbeitete Martínez als ordinierter Pastor der spanischen Gemeinde. In der Juliusstraße treffen sich die beiden Gemeinden noch bis heute.
„Als dieses Haus hier gebaut wurde, in den 50er Jahren, da war die Gegend hier ein aufstrebendes Viertel“, sagt Cantú Flores Reimann nachdenklich und blickt aus dem Fenster zum nahen Rotlichtbezirk hinüber, „die Entwicklung der Stadt Duisburg spiegelt sich auch in der Entwicklung der Gemeinde wider.“ Bei den spanischen Gastarbeitern blieb es nicht. Die Globalisierung brachte neue Gemeindeglieder aus allen sozialen Schichten. Bei der Aufzählung der Nationalitäten kommt die Kantorin in Schwitzen. „Inzwischen haben wir Menschen aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Costa Rica, Kuba, Ekuador, Spanien, Honduras, Mexiko, Paraguay, der Dominikanischen Republik, Venezuela und Deutschland hier“, sagt sie. So wurde aus der spanischen Gemeinde die spanisch sprechende Gemeinde. Neben der nationalen Vielfalt der Gemeindeglieder sind auch ihre Konfessionen und Glaubenstraditionen sehr unterschiedlich. In der Juliusstraße treffen Adventisten, Anglikaner, Baptisten, Presbyterianer, Katholiken, Orthodoxe, Quäker, Pfingstler, Methodisten, freikirchlich Engagierte und Mitglieder der Landeskirche aufeinander. Auch der Einzugsbereich ist groß, zu den Gottesdiensten reisen Gläubige aus etlichen Ruhrgebietsstädten an.
Die unterschiedlichen Auffassungen zu Glaubensfragen sind immer spürbar und auch zu gesellschaftlichen Themen wie Genderfragen und dem Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren ist die Bandbreite der Meinungen groß. Das geht nur, wenn alle bereit sind, die eigenen Überzeugungen auch mal in Frage zu stellen. Zusammengehalten wird die Gemeinde durch die Klammer der spanischen Sprache und durch den Willen, die Unterschiede miteinander auszuhalten und sie in Segen für die Gemeinschaft zu verwandeln.
Anabel Cantú Flores Reimann setzt sich an den Flügel im Gottesdienstraum und spielt „Lasst uns den Weg der Gerechtigkeit gehen“. Unter ihren schnellen Händen beginnt der Rhythmus zu tanzen, die Bitte um das Reich Gottes nimmt Fahrt auf. Der lateinamerikanische Weg der Gerechtigkeit scheint weniger getragen und mühsam, als er einem in deutschen Gottesdiensten oft vorkommt. „El culto es fiesta“, zitiert Reimann den mexikanischen Pastor Salatiel Palomino, dann sucht sie nach der besten Übersetzung: „Der Gottesdienst ist eine Party“, sagt sie und strahlt. Auf gemeinsames Singen und gemeinsames Essen kann man sich überall am schnellsten einigen. Nach dem Gottesdienst gab es in den Gründerjahren Brötchen „broches“ wie die Spanier sagen, inzwischen stehen aber auch venezolanische Arepas und mexikanische Tacos auf dem Tisch.
Bald muss Cantú Flores Reimann ihren vertrauten Flügel leider zurücklassen. Die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Duisburg- Mitte hat das große Haus in der Juliusstraße verkaufen müssen. Mitgliederschwund und daraus resultierende Finanzengpässe fordern auch hier ihren Tribut. Ende Dezember müssen die beiden Gemeinden ausziehen. Zurzeit suchen sie gemeinsam nach neuen Räumlichkeiten.
Das Jubiläum wird noch in der Juliusstraße gefeiert
Am Sonntag, dem 15. September, um 11 Uhr, trifft sich die Evangelische Gemeinde spanischer Sprache zum großen Festgottesdienst anlässlich ihres 60- jährigen Gründungsjubiläums in der Juliusstraße 10- 14. Die spanischsprachige Gemeinde ist Mitglied im Internationalen Kirchenkonvent und so mit der Evangelischen Kirche im Rheinland verbunden. Daher ist nach dem Gottesdienst mit vielen Gästen zu rechnen, die „das kleine Wunder unter Gastarbeitern“ mitfeiern, das ein großer Segen wurde.
Ein Buch zur Gemeindegeschichte und zum Jubiläum
Zum 60-jährigen Bestehen der evangelischen spanischsprachigen Gemeinde in Duisburg beleuchtet das gerade erschienene Buch „Verschiedene Traditionen – ein Geist“ die Geschichte und die vielfältigen Wurzeln der Gemeinde – im Netz unter dem Titel zu finden bei https://buchshop.bod.de.
Text: Sabine Merkelt-Rahm
Das Bild zeigt Anabel Cantu Flores Reimann von der Duisburger Evangelischen Gemeinde spanischer Sprache , Foto: Bartosz Galus