Pressemitteilung

Pflege- und Gesundheitspolitik ist mehr als Pandemiebekämpfung

  • Nr. Pressemitteilung
  • 24.03.2022
  • 6811 Zeichen

Ulrich Christofczik, Vorstand des Evangelischen Christophoruswerks, übt in einem Offenen Brief gemeinsam mit anderen Sprecherinnen und Sprechern der Ruhrgebietskonferenz-Pflege  scharfe Kritik an der Pflegepolitik des Bundes. Lesen Sie den Offenen Brief hier im Wortlaut:

<<Sehr geehrter Herr Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach,

wir schreiben Ihnen als Arbeitgeberinitiative aus der Pflege im Ruhrgebiet, weil wir den Eindruck haben, dass im Schlagschatten der Corona-Pandemie die Pflegepolitik der Bundesregierung offensichtlich vollständig zum Erliegen gekommen ist. Statt an den Inhalten des Koalitionsvertrages und einer nachhaltigen Pflegereform zu arbeiten, wird konzeptlos Geld verschwendet.

Anders können wir als Arbeitgeber beispielsweise den geplanten Pflegebonus für Mitarbeitende in der Langzeitpflege kaum bewerten. Die rund 1 Milliarde Euro, die Sie in diese „Maßnahme“ stecken wollen, sollten besser in die Einrichtung und dauerhafte Finanzierung von zusätzlichen Stellen fließen. Der Pflegebonus kaschiert den Reformstau in der Pflege. Hier wird Geld verschwendet, das man effektiver in die Finanzierung von mehr Personal und die dringend notwendige Digitalisierung der Pflege stecken müsste. Wir brauchen ein Mehrfaches dieser Summe, um die Pflege endlich zukunftsfähig und demografiefest zu machen. Pflege- und Gesundheitspolitik ist mehr als Pandemiebekämpfung.

Der Pflegebonus von 550 Euro ist ein beschämendes Trostpflaster für alle, die seit fast zwei Jahren im Ausnahmezustand arbeiten müssen. Unsere Beschäftigten haben für ihren unermüdlichen und kontinuierlichen Einsatz mehr verdient, als eine kümmerliche Einmalzahlung. Mal ganz abgesehen davon, dass die Auswahlkriterien für die Auszahlung den Betriebsfrieden in den Unternehmen massiv stören werden.

Die Pandemie hat allen vor Augen geführt, wie wichtig funktionierende Pflegeangebote für die Menschen mit Pflege- und Betreuungsbedarf und deren Angehörige sind. Statt den lobenden Worten aus Sonntagsreden über Pflegekräfte Taten folgen zu lassen, werden wir ständig vertröstet und mit Studien oder Modellprojekten hingehalten. So ist beispielsweise seit Anfang 2020, mit der Veröffentlichung des so genannten Rothgang-Gutachtens, wissenschaftlich nachgewiesen, dass bereits heute ein Mehrbedarf an Personal in Höhe von 36 % (115.000 Stellen) besteht. Stand heute gibt es aus Ihrem Ministerium eine „Roadmap“, in der die schrittweise Deckung des aktuellen Personalbedarfs bis auf das Jahr 2025 gestreckt wird. Die Studie wurde 2016 in Auftrag gegeben, seit 2018 wird das neue Personalbemessungsverfahren erprobt und seit 2020 kennen wir die Ergebnisse. Wieso wir bis mindestens 2025 auf eine Umsetzung warten müssen, ist uns als Arbeitgebern in der Pflege schlicht unverständlich. Die geplanten Umsetzungs- und Erprobungsmaßnahmen für 10 (!) Einrichtungen in den kommenden zwei Jahren verzögern die dringend notwendige personelle Aufstockung in der stationären Pflege.

In der ambulanten Pflege und Betreuung haben wir heute bereits deutliche Versorgungslücken, die auf den Mangel an Fach- und Arbeitskräften zurückzuführen sind. Durch die einrichtungsbezogene Impfpflicht wird sich dieser Mangel in manchen Regionen noch weiter verschärfen. Wo bitte bleiben die politischen Maßnahmen, um dem Fach- und Arbeitskräftemangel wirksam und entschlossen zu begegnen?

An der Bezahlung wird es zukünftig ja nicht mehr liegen, dass der Pflegeberuf unattraktiv erscheint. Mit dem Tariftreuegesetz, initiiert aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, werden wir in naher Zukunft die Verdienstmöglichkeiten in der Pflege deutlich verbessern. Das ist gut so. Höhere Löhne werden die Attraktivität der Pflege und Betreuung auf dem Arbeitsmarkt deutlich steigern. Auch für Berufseinsteigende wird die Ausbildung in der Pflege attraktiver im Vergleich zu anderen Ausbildungsberufen. Doch die Folgen werden für die Menschen mit Pflegebedarf massiv spürbar sein. Das liegt an der halbherzigen und mutlosen Pflegereform der letzten Bundesregierung, die Sie laut Koalitionsvertrag deutlich nachbessern wollen. So steigen beispielsweise die Sachleistungsbudgets der Pflegeversicherung nicht zum Start der Tarifpflicht in der Pflege. Es ist absehbar, dass die aus den steigenden Gehältern resultierenden höheren Pflegesätze (stationär, teilstationär und ambulant) von den Pflegebedürftigen direkt aus eigener Tasche bezahlt werden müssen. „Alternativ“ werden sie „Hilfen zur Pflege“ beantragen, was die Politik eigentlich immer vermeiden wollte. Statt der immer wieder verkündeten Entlastung von Menschen mit Pflegebedarf, werden diese nun massiv belastet. Gerade in der ambulanten Pflege wird das im Portemonnaie spürbar werden. Steigerung der Pflegekosten von 20 % bedeuten, dass vergleichbar viele Leistungen wegfallen oder selbst gezahlt werden müssen. Wahrscheinlich werden noch mehr Haushalte dann lieber auf die im grauen Arbeitsmarkt verorteten 24-Stunden Haushaltshilfen zugreifen. In stationären Einrichtungen wird sich der Eigenanteil um 30 – 45 % erhöhen. Das widerspricht der Zielsetzung aus dem Koalitionsvertrag der Ampelregierung, den Eigenanteil zu „begrenzen und planbar“ zu machen. Mit dem Tariftreuegesetz wird außerdem erneut ein Bürokratiemonster geschaffen, um die Einhaltung der Regeln zu überprüfen. Hier werden Strukturen mit Mitteln aufgebläht, die wir an anderer Stelle viel dringender benötigen.

Die Krankenhäuser erhalten mit dem Krankenhauszukunftsgesetz 4,3 Milliarden Euro für den Auf- und Ausbau ihrer digitalen Infrastruktur. Das ist unbestritten gut und sinnvoll. Für die rund 14.000 stationären Einrichtungen und ebenso vielen ambulanten Dienste wäre allerdings mindestens eine vergleichbare Summe nötig, um endlich den dringend notwendigen Digitalisierungsschub in der Langzeitpflege auf den Weg zu bringen. Wir fordern daher umgehend ein eigenes Pflegezukunftsgesetz in Abstimmung mit den Bundesländern.

Wir laden Sie hiermit noch einmal herzlich zu einem „Talk am Förderturm“ ein, um mit Ihnen als zuständigen Bundesminister über unsere Einschätzungen und Forderungen zu diskutieren.

Mit freundlichen Grüßen,

Ulrich Christofczik (Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege und Vorstand im Christophoruswerk-Duisburg)

Thomas Eisenreich (Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege und Vice President of Business Development von Home Instead)

Silke Gerling (Sprecherin der Ruhrgebietskonferenz-Pflege und Geschäftsbereichsleiterin im Diakoniewerk Essen)

Roland Weigel (Koordinator für Kommunikation und Organisation der Ruhrgebietskonferenz-Pflege und Geschäftsführer von Konkret Consult Ruhr)>>

Mehr Infos gibt es unter https://ruhrgebietskonferenz-pflege.de

 

  • Rolf Schotsch